Ein Lexikon der kommunikativen Verzerrungen

Politische Lüge

Politische Lüge

Inwiefern privatisiert politische Lüge öffentliches Interesse?

Wer lügt, besitzt diejenige Wahrheit zum Eigengebrauch, die er anderen vorenthält. Daher ist das Verständnis der Lüge durch Eigennutzung der Wahrheit zu ergänzen. Im Unterschied zu dem Ruf der Lüge beruht diese zur Hälfte auf Wahrheit. Verlockung durch Privatbesitz der Wahrheit könnte ein Grund dafür sein, dass die Menschen mehr im Privaten lügen, als sie die ihnen bekannte Wahrheit mitteilen. Der Übergang von privater Lüge zur Lüge, welche die Öffentlichkeit betrifft, könnte in dem Sinn fließend sein, dass die Privatneigung zur Lüge als Motiv verstärkend wiegt. Wer an privates Lügen gewöhnt ist, dem fehlen Hemmungen, auch öffentlich Lügen zu verbreiten.

Politische Lüge gab es vermutlich, solange es Politik gibt. Theoretiker des Politischen wie Platon oder Machiavelli hatten sie ausdrücklich als tragende Elemente in ihre Politikkonzepte eingebaut. Platon wollte im 8. Buch seiner Politeia für politischen Nachwuchs der Paarung der am meisten geeigneten Männer mit den am meisten geeigneten Frauen sorgen. Zur Täuschung der längst ausgewähltem Betroffenen wird eine Verlosung inszeniert. Die Nachkommen der als minderwertig Eingeschätzten werden zusammen mit den Missgeburten getötet. Auf diese Weise wollte Platon einer von ihm vermuteten Gefahr einer egalitären Zerrüttung der Gesamtgesellschaft entkommen.

Auswärtige Botschaften galten stets als Spionagezentren. Um Zugang zu ihnen vorenthaltenen Wahrheiten zu erlangen, wurde politische Lüge eingesetzt. Als wichtigste Tugend jenes ursprünglich illegitim zur Herrschaft gelangten Fürsten bei Machiavelli galt es, dass er sich nicht entzaubern lassen durfte.

Inzwischen befinden wir uns in einer Zeit der Fakenews. Was hat die Beschäftigung mit Fakenews zu der bestehenden Situation politischer Lüge zusätzlich gebracht? Bringt die die globale Verfügbarkeit von Information uns einer Aufgeklärtheit näher wie einst die Alphabetisierung? Eine zynisch wirkende Antwort lautet leider: Ein Streit um die Informationsbeglaubigung bindet die Informationsgesellschaft an Pro und Contra einer Beglaubigung der Informationen, während die herrschenden Eliten ihr traditionelles Spiel der gelenkten Informationen umso ungehinderter fortsetzen können. Politische Fakenews oder eine gesellschaftliche »Verfakung« bildet daher die Fortsetzung politisch gelenkter Aufklärung im digitalen Zeitalter. Polemisch ließe sich auch von einer CIA- oder NSA-Demokratie reden. Beide Verbindungen aus zwei einander ausschließenden Elementen zeigen deren Unmöglichkeit an. Dass der 45. Präsident im Wahlkampf 2016 76% Lügen verbreitete, zeigt ein Übergewicht des Unrichtigen für die anderen und einen scheinbaren Gewinn des Privatanteils des Zutreffenden an (vgl. Gloy 2019, 197).

Eine Art empirischen Beweis für jene CIA-oder NSA-Demokratie erbringen die Panamapapers, bei denen die Medien dafür sorgten, dass lediglich kleine Teile öffentlich wurden. Auch für Enthüllungen Snowdens gilt: Sie wurden mehrheitlich begraben und werden nicht mehr publiziert, »weil man sie dummerweise dem Guardian und ›The Intercept‹ anvertraut hatte« (Bröckers 2019, 38, 42). Der Hass auf Chelsea Manning oder vor allem auf Julian Assange erklärt sich wie folgt: »Julian Assange hat das eigentliche ›arcanum‹ des amerikanischen Imperiums verraten – die Tatsache, dass Volkssouveränität und Demokratie nur eine Farce sind – und dafür wird er von den Herrschenden und ihre Handlangern so abgrundtief gehasst« (Bröckers 2019, 45). Vielleicht hat man aus der Dreyfus-Affäre zu Beginn des 20.Jahrhunderts in Frankreich inzwischen verallgemeinerte Folgerungen gezogen.

Das Modell einer Beschäftigung der Bevölkerung mit Informationsbeglaubigung soll vermutlich für alle Zeiten die Bevölkerung davon abhalten, sich darüber zu empören, dass Aufklärung auf ein skandalträchtiges Minimum gekürzt wurde. Wie nämlich definierte im 20. Jahrhundert der französische Dichter Paul Valéry Politik? Politik sei Die Kunst, andere davon abzuhalten, sich in das einzumischen, was sie angeht.

Anders verhält es sich mit dem Wahrheitsbegriff überhaupt. Dabei sollte man methodisch von Korrespondenzwahrheit ausgehen. (Der Satz, dass jemand existiert, solange der denkt, er existiere, ist insofern wahr, als jemand gibt, der existiert, solange er denkt, dass er existiert.) Wird Wahrheit geleugnet, so wird der Satz beansprucht, dass es wahr sei, dass Wahrheit entfalle. Doch diese Überlegungen führen zu einer Aporie der Unentscheidbarkeit (Gloy 2019). Diese Aporie ähnelt jenem Problem der Verfakung als politisch gestutzter Aufklärung, das Politik nicht abzulegen imstande scheint.

Rubrik: Vermeidbarer problematischer Bezug

Alternative: Der Wahrheit, die man weiß, mehrheitlich keinen exklusiven Eigenbesitz zusprechen.

M. Bröckers, 2019: Don`t kill the messenger! Freiheit für Julian Assange. Mit einem Beitrag von Caitlin Johnstone, Frankfurt 2019

R. Erlinger, R, Warum die Wahrheit sagen? Berlin 2019

K. Gloy, Wahrheitstheorien, Tübingen und Basel 2004

K. Gloy, Wahrheit und Lüge, Würzburg 2019

Platon, Politeia. Übers. F. Schleiermacher. Darmstadt, 1971 Griechisch/Deutsch

B. H. F. Taureck, Machiavelli-ABC, Leipzig 2002

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