Philosophisch-politische Fragen

Über historische Haupt-und Nebenschauplätze

Über historische Haupt-und Nebenschauplätze

Geschichte wird durchzogen von einer wenig deutlichen Unterscheidung: der von Hauptschauplätzen und Nebenschauplätzen. Als die NATO-Mission in Afghanistan trotz Ankündigungen scheinbar plötzlich im August beendet wurde, war der Nebenschauplatz Afghanistan kurzzeitig Hauptschauplatz. Inzwischen versank er trotz dortiger Hungersnot in einen Leerschauplatz. In Madagascar wütet Hungersnot. Die riesige Insel in Südostafrika blieb um so mehr Leerschauplatz. So sorgt der Medienverbund für das Urteil: Keine Informationen, also kein Hunger.

Es stellt sich die Frage: Gibt es lediglich Hauptschauplätze? Wurde die traditionelle Unterscheidung von Hauptschauplatz und Nebenschauplatz durch eine Rhetorik des Hauptschauplatzes verdrängt? Dies scheint möglich, setzt aber voraus, dass alle Ereignisse oberflächlich geschehen und dass es keine Latenz mehr gibt. Die historische Tradition war reicher an Unterscheidungen. Als Griechenland zentral war, befand sich Rom in einer Nebenschauplatzrolle. Sein Aufstieg begann erst im Hellenismus nach der riskanten Besiegung Hanibals. Jetzt wurde auch Griechenland zur römischen Kolonie. Allerdings geschah damals etwas, was uns noch immer die höchste Achtung abverlangt: Politisch entmachtet, stieg die Praxis der griechischen Kultur zum römischen Leitstern auf. Cicero führte griechisches Vokabular in das Lateinische ein. Philosophische Texte wurden übersetzt. Die griechischen Tragiker sprachen nunmehr auch Latein. Jenes griechische Rätselwort to deinón – es bedeutet das Maßlose, das unbezähmbar Wilde und kennzeichnet die Natur des Menschen bei dem Tragödiendichter Sophokles – wussten die Römer nicht in ihrer Vieldeutigkeit zu erfassen und übersetzten es abschwächend mit mirabilis, mit wundervoll. Alle Politiker sprachen und schrieben oft Griechisch, so etwa der Kaiser Marc Aurel mit seinen Betrachtungen Ta eis heauton, seinen Selbstbetrachtungen. Zugleich erwachte Rom erst in der Begegnung mit griechischen Vorstellungen zu sich selbst. Das zeigt sich bei Vergil. Der nämlich verkündigte in seiner vierten Ekloge die Rückkehr der Götter auf diese Erde und damit das Ende der 600 früher von Hesiod beschriebenen eisernen Zeit, in der alles Recht auf Gewalt beruht. Nein, so Vergil, es werde die goldene Zeit zurückkehren, allerdings auch mit Kriegen und Konflikten. Auf diese Weise bereitete Vergil die Inszenierung einer neuen Goldenen Zeit vor, welche die Grundlage für jenen Herrscher bildet, der als politischer Terrorist begann und nunmehr als der Erhabene, als Augustus endet.

Augustus war und bleibt heimliches Vorbild eines Staates, der selbst eine Fusion von power und poetry sein möchte, und über alle anderen Staaten jene „demokratische“ Herrschaft ausüben möchte, die der Zentralstaat von sich selber ausschließt: Die Vereinigten Staaten von Amerika. Rom war objektiv Herrscher der damals bekannten Welt. Sein Imperium umfasste alle Länder des Mittelmeeres einschließlich der iberischen Halbinsel, Frankreichs, Großbritanniens, des Balkans, der Türkei, des nahen Ostens und alle Länder Nordafrikas von Ägypten bis Marokko. Noch stärker verfügten die USA Die vier Jahre von 1945 bis 1949, als die USA ein atomares Monopol besaßen, gaben diesem Staat das Bewusstsein, erneut eine Globalherrschaft absoluter Art auszuüben. Es wurde abgegeben an eine atomare Technik und deren Zielblindheit der gegenseitigen Selbstzerstörung namens MAD.

Doch zurück zu der Frage nach Hauptschauplatz und Nebenschauplatz. Ich möchte die erwähnte Novellierungsbehauptung ersetzen durch folgende Behauptung: Es wurde die Unterscheidung von Hauptschauplatz und Nebenschauplatz ersetzt durch ein unentscheidbares Nebeneinander von Erscheinungen, dem aber eine permantente Relevanzlatenz zugrunde liegt. Den Anfang machten die Declaration of Independce der späteren USA, dann der Jahrzehnte zuvor vorbereitete Ausbruch der Französischen Revolution. Danach die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert. Aber auch scheinbare Kleinereignisse folgen der permanenten Relevanzlatenz wie die Gelbwesten ab 2019 in Frankeich und Greta Thunbergs zunächst aussichtsloser, dann globaler Protest.

Es gibt Historiker, die hier lediglich einen Konflikt zwischen Zentrum Peripherie erblicken. Es sind unbelehrbare Traditionalisten, welche die neuen Zeichen im Licht des Überkommenen deuten. In der Tat: Zentrum und Peripherie galt irgendwie für das Imperium Romanum. Doch selbst dafür reichte die Differenz kaum. Denn Tacitus verriet uns, dass Personen zum Imperator (Kaiser) auch außerhalb Roms erhoben werden konnten. Nach Neros Freitod nämlich gab es in einem Jahre vier Kaiser: Galba, Otho, Vitellius und Vespasian, von denen die ersten drei gewaltsam den Tod fanden. Vespasian herrschte, wenn auch bestechlich, ohne Grausamkeit und war voller Witze. Bevor seine letzte Stunde nahte, rief er aus „Oh weh, ich glaube, ich werde ein Gott!“

Die Peripherie lauerte beständig in Verschwörungen und seitens des Militärs, das mit Putsch drohte, wenn es ihm passend erschien. Zwar gab es das kaiserliche Herrschaftszentrum, doch es war ständig bedroht. Bereits Augustus befand sich einem ständigen Kampf mit Verschwörern. Die römischen Kaiser, die ohne offizielles Amt und aufgrund ihrer Beliebtheit beim Volk und mit Duldung des Senates herrschten, erfanden stets die idealistische Unterscheidung von Zentrum und Peripherie neu, und gaben dem Reich die Fassade einer Einheit. Diese erschien in Rom durch die postmortale Vergöttlichung der Kaiser gesichert, die der witzige sterbende Vespasian anrief, die jedoch auch häufig ausblieb. Die römische Kaiserzeit war wilder, gesetzloser, anarchischer als unsere Erinnerung an sie. Als Augustus starb, klagte das Volk: Er war ein demokratischer Monarch; er gab dem Reich freie Entfaltung. Er sorgte für eine gesellschaftliche Demokratie, die ohne die übliche Zwietracht der Demokratien erfolgte. Darin könnte ein Schlüssel für unsere Selbstdarstellung liegen. Demokratiebestimmte Gesellschaften wählen sich turnusmäßig Oligarchien aus, die für die nächste Gesetzgebungsperiode die Gesellschaft beherrschen sollen. Was die Römer nach dem Tode des Augustus beklagten, wurde inzwischen zur Struktur republikanischer Herrschaft im Namen einer Demokratie.

Jeder muss sich vorbehaltlos zur Demokratie bekennen, um sich von einer Herrschaftsoligarchie beherrschen zu lassen. Die permanente Relevanzlatenz lässt Unvorhergesehenes nur insofern zu, als es sich als Demokratie bestätigen lässt. Das ist auch der Grund dafür, weshalb das Bedrohliche nur insofern willkommen ist, als es ein demokratisch von der jeweiligen Oligarchie beherrschbares, gestaltbares Risiko darstellt. Die Erderhitzung ist in der Tat bedrohlich, das Seeeis des Nordpols schmilzt fort, der sibirische Permafrost taut auf. Doch es besteht demokratisch legitimierter Anpassungsbedarf. Dagegen erscheint das Verstrahlungsrisiko irreparabler Atomkraftwerke und ein jederzeit ausbrechender Atomkrieg aus Versehen, nicht auf den Gefahrenbildschirmen.

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