Poetische Streifzüge

Das Unendliche von Giacomo Leopardi

Giacomo Leopardi
Das Unendliche

Lieb war mir stets dieser einsame Hügel
Und diese Hecke, die einen Aspekt
Des letzten Horizonts dem Blick verschließt.
Jedoch, indem ich sitzend ruhe und um mich blicke, grenzenlose
Räume jenseits des Hier und übermenschliches
Schweigen und tiefste Ruhe
Stelle ich mir denkend vor, so dass
Fast mein Herz erschrickt. Und wenn ich den Wind
Durch diese Sträucher rauschen höre, vergleiche ich
Jenes grenzenlose Schweigen
Mit dieser Stimme: die mich an das Ewige erinnert,
An die längst vergangenen Tage, dann an die Gegenwart
Des Lebens und an seinen Ton. Damit geht
In dieser Unermesslichkeit mei
Eigendenken unter:
Ein Schiffbruch voll angenehmer Süße in eben diesem Meer.

Giacomo Leopardi
L`infinito

SEMPRE caro me fu quest`ermo colle.
E questa siepe, che ta tanta parte
Dell`ultimo orizzonte il guardo esclude.
Ma sendendo e mirando, interminati
Spazi di là da quella, e sovrumani
Silenzi, e profundissima quiete
Io nel pensier mi fingo; ove per poco
Il cor non si spaura. E come il vento
Odo stormitr tra queste piante, io quello
Infinito silenzio a questa voce
Vo comparando: e mi sovvien l`eterno
E le morte stagioni, e la presente
E viva, e il suon di lei. Così tra questa
Immensità s`annega  il pensier mio:
E il naufragar m’è dolce in questo mare.)

Leopardi verfasste das Gedicht Das Unendliche im Jahre 1819 mit 21 Jahren. Er gehört einer Zeit an, die von der europäischen Aufklärung  beseelt und von der Romantik infiziert waren wie in Deutschland zum Beispiel seine Zeitgenossen Novalis oder Hölderlin. Alle drei Dichter weisen indes weit über ihre Zeit hinaus und passen bis heute in keinen literaturhistorischen Rahmen.

Während das Unendlichkeitsgedicht Ausdruck einer erlebten  Unendlichkeitserfahrung darstellt, in der das Ich seine Individualität als von ihm bejahte Auflösung erlebt, stellt  das spätere Gedicht An sich selbst (Hier lesen)  (zwischen 1833 und 1835) Ausdruck des Abgrundes einer Weltverneinung dar.
Diese passt inzwischen zu vielen Erscheinungen, die erst allmählich in der Zeit nach Leopardi deutlich wurden. Lohnt sich, so lässt sich Leopardis Gedicht An sich selbst heute lesen, das Leben noch in einer Welt, die von der Übernutzung der Erde, von der Erhitzung der Atmosphäre, von lebensgefährlichen Zoonosen und nicht zuletzt von einer friedlich oder kriegerisch bewirkten Verstrahlung tödlich bedroht wird?

Eine genaue Kommentierung beider Gedichte findet sich in folgender italienischer Ausgabe der Leopardi-Gedichte: Giacomo Leopardi, Canti. Indroduzione di F. Gavazzeni, note di F. Gavazzeni e M. M. Lombardi, Milano 2004, 267-274 und 508-514.

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