Pandemiefolgen

Die Nähe kommt aus der Ferne: Überlegungen zu einen Virtual turn der Schulen und Hochschulen als Dauerfolge der Pandemie

Die Nähe kommt aus der Ferne: Überlegungen zu einen Virtual turn der Schulen und Hochschulen als Dauerfolge der Pandemie

Verfasser in Zusammenarbeit mit Marie Gamillscheg und Timm Treskatis

1. In Berlin fragen sich Studierende inzwischen, wozu drei Gebäudekomplexe der dortigen Universitäten eigentlich noch bestehen, wenn sie weiterhin nicht genutzt werden? Dahinter verbirgt sich die Frage, ob Schulen und Hochschulen nicht einen virtual turn vollziehen sollten und sich alle in Fernuniversitäten verwandeln sollten, die ihrerseits nicht mehr zentralisiert organisiert sind. Ein befreundeter Musiker berichtete mir, er spare sich inzwischen pandemiebedingt die lästigen Stunden der Anfahrt zu seinem Musiklehrer und tausche sich über die Ferne mit ihm aus.

Könnte die Bildungsverwaltung der Pandemie nicht aus ihrer Not eine Tugend machen und sich von einem Ort der oft leeren Nähe in einen Ort der konzentrierten Ferne verwandeln?

2. Protest kommt von jenen, die finden, dass zum Lernen die Erfahrung der anderen gehöre. Das Argument ist nicht recht klar. Vergleichen wir das Lernen einmal mit jenem elementaren Vorgang, dass der Lernende sich dem Ausdruck eines anderen Bewusstseins für lange Perioden methodisch unterwirft, das heißt mit dem Vorgang des Lesens. Lesen erfolgt, jedenfalls seit dem Ende der Antike, indem der Lesende mit dem Text in eine stille Zwiesprache eintritt. Wer liest, ist allein, jedoch um den Preis, dass er mit dem Text in einen Dialog über die Sache eintritt.

Lernen erweist sich entweder als eine Ergänzung oder als eine Korrektur des eigenen Wissens. Wer nicht weiß, was ein aussagenlogischer Schluss ist, könnte lesend gelernt haben, dass stets aus Wenn p, dann q folgt, dass, wenn p gegeben ist, dann auch q folgt. Wer meint, dass die Achsenzeit ein Euphemismus für die „axis of evil“ war, mit der die USA ihre geostrategischen Feinde bezeichneten, könnte lesend korrigiert werden, dass Achsenzeit diejenige Periode zwischen 800 und 200 vor u. Z. meinte, die in verschiedenen Kulturen Wendungen zur Verallgemeinerung hervorbrachten.

Bekannt sind Fälle, in denen Personen in den Naturwissenschaften im Gymnasium überhaupt nichts Zusammenhängendes lernten. Sobald man diesen Personen jedoch Bücher gab, in denen Physik oder Chemie zusammenhängend und plausibel dargestellt wurde, so waren sie bald in der Lage das Unverstandene zu verstehen. Ich selbst bekenne, dass ich als Jugendlicher am meisten aus jenen Nachtprogrammen des Radios gelernt habe, die zu Beginn der sechziger Jahre ein inzwischen nicht wieder erreichtes Niveau besaßen.

In den Naturwissenschaften kommt es zur An- und Auswertung von Experimenten. Dazu ist Naherfahrung nötig. Vielleicht ließen sich hier auch Techniken der Echtzeitsimulation entwickeln, ähnlich wie der Wertpapierhandel dies seit langem erfolgreich praktiziert.

3. Lesen und Zuhören sind also die beiden Quellen der Bildung. Dabei sind beide durch das Aufschreiben für weiteres lesendes Studieren verbunden. Das lesende Aufnehmen ist somit der primäre Ort des Lernens und des Bildungserwerbs. Beide sind Erzeugnisse, die immateriell über die Ferne funktionieren. Buchreligionen haben sich über große Entfernungen erfolgreich ausgebreitet. Mit der digitalen Veränderung der Kultur durch das Digitale – die Bezeichnung geht auf lateinisch „digitus“, Finger oder Handzeichen, zurück und verrät insofern nichts über die immaterielle Datenübermittlung – erhält das lesende Dechiffrieren eine Zentralstellung für die gesellschaftliche Gesamtverständigung, welche die Erfindung des Buchdrucks ihrerseits voraussetzt und voraussetzend überbietet. Doch damit steigen auch berechtigte Zweifel. Es droht nämlich auch einzutreffen, was Oscar Wilde vor mehr als einhundert Jahren bereits bemängelte. Vormals, so Wilde, wurden Bücher von kundigen Autoren geschrieben und vom Publikum gelesen. Heute jedoch werden Bücher vom Publikum verfasst und von niemandem gelesen.

Goethe lieferte uns den schlichtesten Bildungsbegriff, den wir erfüllen müssen, um uns selbst zu erziehen: „Sich mitzuteilen ist Natur; Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung.“ Bildung bedeutet insofern Abbildung der Mitteilungen des anderen im eigenen Bewusstsein.

Weil der Lesevorgang von sich aus Fragen freisetzt, die oft im Lauf der Lektüre beantwortet werden, so entwickelt sich alle lernende Bildung zu einer Selbsterziehung, die beständig unbeantwortete Fragen aufwirft und weiter bearbeitet. Wenn man zwischen gebildeten und bildungsfernen Menschen unterscheidet, so sind die Gebildeten Personen, die lesend und unbeeinflusst von anderen Selbsterziehung erreichten und diesen Weg der Selbstbildung beständig fortsetzen. Damit hängt auch zusammen, dass deren Fragen, die sie an andere richten, eben aus jenen Fragen resultieren, die sie während der Lektüre an den Text und sich selbst richteten. Damit ist klar, dass die lesend erarbeitete Selbstbildung monologisch beginnt, um in einen Dialog zwischen den Selbstgebildeten zu münden.

Die Selbstgebildeten besitzen Bildung zur Selbstgestaltung ihres Lebenssinns und sind gleichzeitig daran interessiert, die Grenzen der Bildungsferne anderer soweit als irgend möglich zu überwinden. Selbstbildung fördert kein elitäres Gehabe, sondern will das Elitäre in einer Gesellschaft der fortschreitenden Selbstbildung aufheben. Je mehr Bildung für den Abbau des Elitären sorgt, desto geringer würden jene Chancen sein, die Bevölkerung umfassend politisch zu manipulieren. In Frankreich erschien daher vor etwa 20 Jahren ein Buch mit dem Titel „Une école élitaire pour tous“, eine Elitäre Schule für alle, mit der das Elitäre aufgehoben würde.

Diese elitäre Schule für alle wurde bereits vor der Pandemie von verschiedenen Universitäten – u. a. Oxbridge, Imperial College, Sorbonne, Standford, MIT, Harvard – so konzipiert, dass sie ergänzend zur Nahlehre beständig angeboten wurde.

4. Aus dem Gesagten folgt, dass Lernen und Bildung der Schulen und Hochschulen durchaus jenen virtual turn vollziehen könnten, anstatt wie bisher, auf Nähe und Austausch verpflichtet zu sein.

Ein Vergleich des Nah-Lernens mit dem Fern-Lernen ergibt einige Unterschiede: 1. das Fern-Lernen bietet reine Mitteilung, während das Nah-Lernen situative Mitteilung ist. Der Fernlernende liest Texte, während der Nahlernende auf die Ansichten seines Dozenten und der Mitstudierenden angewiesen bleibt. 2. Der Fernlernende lernt ohne zufällige Umstände, die Nahlernende ist an zufällige Umstände gebunden. 3. Der Fernlernende kann sein Gelerntes umstandslos überprüfen lassen, während der Nahlernende einer umständlichen Überprüfungsprozedur ausgesetzt ist. 4. Der Fernlernende lernt Gleiches auf gleiche Weise, der Nahlernende lernt im Vergleich mit anderen, bei denen es jedoch kaum noch Maßstäbe des Gleichen gibt. 5. Das Fernlernen kommt dem internationalen Modus weitaus mehr entgegen als das lokal begrenze Nahlernen. Seit langem sind alle Wissenschaften auf Textaustausch angewiesen. Es reicht zum Beispiel nicht, dass man in Deutschland klärt, was religiös zu glauben bedeutet, wenn dies nicht auch in Ostasien bekannt ist. Es reicht nicht, dass man in China Tianxia als „alles unter dem Himmel“ und als „Inklusion der Welt“, die kein Außen kennt, expliziert, wenn dies nicht auch in Berlin, Paris, Oxford und Princeton bekannt ist. Die Nähe kommt aus der Ferne, während die Summe des Nahen keine Ferne erzeugt.

5. In der Politik hat man sich daran gewöhnt, die Politiker unter keinen Umständen aus der Nähe zu erleben, außer in künstlichen, punktuellen und inszenierten Begegnungen. Scheint auch das Fernlernen diese Anonymität in die Bildung einzuführen? Der Schein trügt. Während die Politiker unter sich bleiben und Volksnähe nur inszeniert ist, kommen die Fernlernenden zu regelmäßigem Austausch im nahen Modus der Ferne zusammen.

6. Falls die Pandemie des Globus einmal ein Ende haben wird, so könnten die Staaten und Gesellschaften inzwischen einen virtual turn so weit perfektioniert haben, dass die Sehnsucht nach einem Nahlernen irreal wird. Die bezeichneten Vorteile des Fernlernens würden die des Nahlernens überwiegen. Aus der Nähe als Muss könnte jedoch nunmehr die Nähe zu einem Fest des Seltenen werden. Die Studierenden, die Schüler*innen, alle Lernenden und alle Lehrenden könnten international zu Tagen der Nähe zusammenkommen, die ihnen so viel zu denken und zu lernen geben, wie sie in der Folgezeit aufzuarbeiten haben würden.

Um die Nähe mehr als bisher zu schätzen, könnte diese künftig mit der Aura des Ungewöhnlichen umgeben sein. Die Nähe besäße dann die Chance der Besonderheit, auf die man sich vorbereitet und sich bereits in der Erwartung freut, statt sie als Selbstverständlichkeit kaum noch zu beachten.

7. Man mag sich allerdings die berechtigte Frage stellen, wie es bei einem Virtual turn der Schulen und Hochschulen noch Teamarbeit gibt und vor allem, wie um die Forschung steht. Beide Fragen vermag ich selbst infolge eigener Erfahrung nicht als Einwand zu lesen, sondern eher als Befürwortung des Fernlernens. Ein befreundeter Kollege und ich arbeiten seit Jahren über die Ferne daran, gemeinsam Bücher zu verfassen und in einem Team, das verschiedene Forscher zu verschiedenen Themen versammelt. Auch hierbei kommt die Nähe aus der Ferne. Zwar habe ich den Kollegen – auch unter Pandemie-Bedingungen – besucht, doch dabei unterhielten wir uns nicht über unsere Projekte, die über die Ferne präziser zu klären waren als im Gespräch. Ich ziehe daraus die Folgerung, dass forscherische Arbeit auch im Team über die Ferne effektiver zu sein vermag als unter den Bedingungen einer Nähe, die unnötige Einschränkungen oder Relativierungen einschließt. Die Nähe, die aus der Ferne kommt, besitzt den Vorteil eines höheren Präzisierungsgrades.

8. Der Virtual turn verlangt allerdings die Entwicklung einer Didaktik der Ferne, die derzeit noch nicht verfügbar ist. Die Pandemie hat zu Formen des Improvisierens geführt, verbunden mit der Erwartung, dass dieses Vorläufige alsbald einem Lernen der vormaligen Nähe weichen würde. Das war in den ersten Monaten der Pandemie verständlich, während es in den nachfolgenden Monaten nicht mehr galt mit der Folge, dass nunmehr die Frage sich nahelegt, ob und warum ein Virtual turn im Bildungswesen näherliegt als eine Rückkehr zur Nähe.

9. In den USA verlassen inzwischen zahlreiche Unternehmer ihren Firmensitz im wohlhabenden Kalifornien und beginnen damit, verstreut von ihren Home Offices aus Leistung zu erbringen.

10. Um den Verdacht auf Einseitigkeit zu begegnen, schließe ich mit folgendem Ausblick: Außerhalb der Pandemie könnte es verschiedene Modelle geben, die alle zu erproben wären: Erstens das Modell der Parallelität von Nah- und Fernlernen. Zweitens das bisherige Modell, dass Nahlehre und Nahlernen primär und Fernlernen sekundär ist. Drittens das Modell, dass Ferndidaktik primär und Nahdidaktik sekundär ist.

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