Ein Lexikon der kommunikativen Verzerrungen

Dramatisch

Dramatisch

Diese Bezeichnung ist insofern problematisch, als Ereignisse aus einer
Zuschauersicht wahrgenommen werden, die den Zuschauern Lustgewinn
verspricht, gleichgültig, auf wie viel fremdes Leiden sie sich beziehen.

In Frankreich setzte um 1835 neben »dramatisch« als zum Drama gehörig die
emotionsgeladenen Bedeutung ein im Sinn von »aufregend« und »spannungsreich.« Das
gigantische Wörterbuch der Brüder Grimm enthält übrigens gar keinen Eintrag zu »dramatisch.«
Inzwischen scheint diese lediglich abgeleitete und sekundäre Bedeutung die einzig existierende
zu zu bilden. Ähnlich wie im Fall der »Sensation«, die zunächst nichts als »Empfindung« meinte
und dann den inneren Erregungszustand auf die Vorgänge übertrug, wird man über Vorgänge
im Drama eher als dramaturgische Vorgänge berichten und nicht mehr von »dramatischen«
Bezügen sprechen.
Wenn Personen als Folge eines Verkehrsunfalls verbluten und Schaulustige dies filmen, so
scheinen sie von diesem dramatischen Ereignis fasziniert zu sein. Ebenfalls entwickeln sich
internationale Beziehungen zu Kriegen, sobald sie sich »dramatisch« zuspitzen.
Es scheint, dass die Verwendung von »dramatisch« unseren Seelenhaushalt insofern
ausgleicht, als er uns von verschiedenen aversiven eigenen Erlebnissen distanziert: von der
Langeweile, von der Einsamkeit und der Niedergeschlagenheit (Depression). Wenn wir etwas
für »dramatisch« halten, kann es daher auch das fremde Leid sein, das unsere Aufmerksamkeit
von der eigenen Langweile, Depression und Einsamkeit ablenkt.
Befinden wir (jeder einzeln und alle zusammen) deshalb noch immer in jenem von Blaise
Pascal im 17. Jahrhundert bezeichneten Zusammenhang einer Todesverfallenheit, der wir mit
der Ablenkung (le divertissement) unmerklich ausgeliefert sind? Pascal notierte 1658: »Das
einzige, was uns über unser Elend tröstet, ist die Ablenkung und zugleich stellt sie unser
größtes Elend dar. Diese nämlich hindert uns vor allem an uns selbst zu denken und dies lässt
uns selbst unmerklich verlieren. Ohne die Ablenkung befänden wir uns in der Langeweile, die
uns dazu bewegte, ein anderes Auswegmittel zu zu suchen. Doch die Ablenkung amüsiert uns
und lässt uns unmerklich beim Tod ankommen.« Im Unterschied zu Deutschland und der
angloamerikanischen Zivilisation werden die Aphorismen Pascals in Frankreich mit größerer
Intensität wahrgenommen und bestimmen dort oft die kulturelle Selbstverständigung. Welches
ist daher ein Gegenteil zu »dramatisch«? Wenn uns die Bezeichnung des Gegenteils fehlt, so
ist es lohnend, zumindest nach ihr zu suchen. Voltaire, der 100 Jahre nach Pascal sein
gesamtes Leben eng mit diesem gestritten hat, ließ seinen berühmten Roman Candide ou
l`optimisme mit der Weisheit enden: »die Arbeit hält drei große Übel von uns fern, die
Langeweile, das Laster und die Not.« Doch die Arbeit hat im 19. Jahrhundert ihre
Begriffsunschuld verloren. Für Voltaire war sie, der Locke folgte, eine Wirkung, die der
Arbeitende mit seinem ihm selbst gehörenden Eigentum anstellt. Wer seinen Garten bestellt,

der kenne weder Langweile noch Laster noch Not. Er ernährt sich von seinen Früchten oder
von deren Verkauf. Marx zeigte 1844 auf, dass längst mehrheitlich gegen Lohn für die Besitzer
von Eigentum und deshalb »entfremdet« gearbeitet wurde. Zudem beruht Eigentum nicht auf
eigener Arbeit oder Tausch, sondern nicht selten auch auf Raub und Gewalt.


Literatur
Das große Wörterbuch der Deutschen Sprache in sechs Bänden. 1976. Band 2. Bibliografischen Institut:
Mannheim, S. 576
Le Grand Robert de la langue française , Band 2. 2001. Editions Robert: Paris, S. 1696
Marx, K. 1962: Frühe Schriften. Hrsg. Lieber/Fürth. Cotta: Stuttgart, S. 559-575
Pascal, B. 2000: Pensées. Hrsg. G. Feyrreyrolles. Classiques de poche: Paris Nr. 33, S. 51
Voltaire 1960: Romans et Contes. Hrs. H. Bénac. Classiques Garnier: Paris, S. 220

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