Pandemiefolgen

Ein fragendes Funkwort aus der erstarrenden Pandemie

Ein fragendes Funkwort aus der erstarrenden Pandemie

1. Nur China und Fernasien wehrte die Pandemie mit wenig Todesfolgen ab. Überall sonst stieg die Zahl der Toten, häufig alte Menschen, aber auch junge. Etwas, das nicht lebte, wurde zu einer Bedrohung des Menschenlebens. Es verging ein verlorenes Jahr, es folgte ein sich verlierendes Jahr.

Man schrieb überall nichts als nichts über dieses Nichts. Man kehrte sich ab, man versuchte, sich zu entfernen, man drehte sich im Kreis. Man wurde mutlos, man schöpfte Mut. Ist das Virus nichts, so sind wir alles. Das Alles nimmt das Nichts nicht auf. Wer stirbt, war in Wirklichkeit schon immer ein Nichts. Das Lebende, das das Nichts nicht aufnimmt, müsste es nicht selbst unsterblich sein? Wie lange dauert die Unsterblichkeit, bevor die Übersterblichkeit sie einholt?

Alle wissen: Man zieht sich zurück, es überleben uns die elektronischen Gewässer der Kommunikation. Doch mit dem Sein, so Montaigne, haben wir keine communication. Die eingefrorene Gesellschaft taut in den Küchen, im Badezimmer, im gewärmten Bett, jedoch auch im hasserfüllten Du und Dich des irreversiblen Singlestreites auf. Jeder weiß, es gibt kein Drehbuch, und alle drehen drehbuchlos durch.

2. Jeder fühlt: Es bedürfte einer schweigenden Sprache, eines Nichtmehrsprechens und ebenso eines Nochnichtsprechens. Doch wir alle tauschen die Wörter der Leere. Daher kann das Nichts uns beiwohnen, und man erstickt, blau anlaufend, an übersterblichem Pathos.

Gibt es denn keine Rettung, gibt es keine Impfung des Seins, ist alles ein kreisender Traum, der zum Tode erwacht? Ist die Sprache dabei, sich selbst zu verlassen? Mancher hört eine Stimme aus Dürrenmatts Erzählung Der Tunnel, Gott habe uns verlassen, und daher stürzen wir auf ihn zu. Trügt sie? Der Drecksack Gott existiere nicht, findet Hamm In Becketts Endspiel und bemerkt dort ebenso: „The end is in the beginning and you go on.“

3. Im Fernen Osten wartet Daodejing des Laozi, Nummer 64:

Deshalb ist der vollkommene Mensch begierig danach, kein Begehren zu haben und schätzt schwierig zu erlangende Güter nicht hoch.

Er lernt das Nicht-Lernen

und wiederholt das, woran die vielen vorüberzogen.

Dadurch hilft er dem So-Sein der zehntausend Dinge

und dabei wagt er nicht einzugreifen.

Er ist dem mystischen Dunkel – xuán zhi – nah. Doch dieses Erleben wird alsbald kulturkritisch. Die menschliche Zivilisation ist schwer erkrankt, und man darf deshalb nicht immer weiter eingreifen, um zu reparieren. Der Organismus des Ganzen bedarf der Ruhe, um von sich aus zurückzufinden: zu seiner ursprünglichen Schlichtheit. Solange uns, mit Pascal empfunden, das ewige Schweigen des Weltraums erschreckt, so könnte im nächsten, regellosen Schritt xuán zhi, die mystische Ruhe, unerwartet und willkommen zu uns gelangen.

Ein Gedanke zu „Ein fragendes Funkwort aus der erstarrenden Pandemie

  • Claudia Marrapodi

    Ein hervorragendes Statement, das in seiner fazettenreichen Gestaltung den Nagel auf den Kopf trifft. Man kommt aus dem Lesen, Staunen und Hinterfragen nicht mehr heraus! Es legt sich wie eine zweite Haut ueber das vom Homo Demens Bestialis weltweit gespannte toedliche und illusionaere Spinnennetz und setzt die Noppen dort, wo die wichtigsten Stationen des Kreuzweges der Schoepfung eingestanzt sind! Dort gilt es zu verweilen – und tief nachzudenken, denn, wie im obigen Text hervorgehoben, ist die menschliche Kultur – UND Zivilisation schwer erkrankt und das ganze Perpetuum Mobile dreht sich im Leerlauf wie der Sensenmann im Glockenturm! Ich wuensche der Menschheit so schnell wie moeglich die EWIGE RUHE, damit die anderen Spezies endlich die mystische Ruhe geniessen koennen, die ihnen von der hoechsten Intelligenz von Anfang an zugedacht war!

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