Philosophisch-politische Fragen

Gesichter des Übermenschen

Gesichter des Übermenschen

Beim Thema „Übermensch“ werden die meisten zunächst an Nietzsche oder gar ausschließlich an Nietzsche denken. Vergessen sind dabei die Bemühungen innerhalb der russischen Revolution, die offenbar alle darauf abzielten, „die Sterblichkeit ganz abzuschaffen. Die Konservierung von Lenins Leichnam und seine öffentliche Ausstellung im Zentrum Moskaus wurde von Zeitgenossen so verstanden, dass er in seinem Glassarg auf eine künftige Auferweckung warte.“1 Inzwischen sind jene Träume vergessen und es leuchtet eine technisch möglicherweise erreichbare Überschreitung des Menschen am Horizont auf. Diese trägt daher auch die eher wissenschaftliche Bezeichnung des „Transhumanismus“, verstanden als auch unternehmerisch profitable Voraussage einer götterartigen Zukunft der Menschen neben ihrer Zerstörung. Wenn die KI-Leistung künftig einen Wendepunkt erreicht, genau dann entsteht für die Menschen eine Chance der vitalen Bedrohung oder eine Chance ihres götterartigen Aufstiegs. Zum Thema Transhumanismus wird später in diesem Magazin das Lexikon handeln. An dieser Stelle wenden wir uns in knapper Form drei anderen Autoren zu. Neben Nietzsche handelt es sich um Goethes Faust und um die Rolle des Gesetzgebers in der politischen Staatsgrundlegung Rousseaus.

Wenn Nietzsche den Übermenschen verkündet, so beweist sein Also sprach Zarathustra, dass diese Verkündigung infolge der Adressaten scheitert. Zarathustra verkündet seinen Zuhörern ekstatisch den Übermenschen als „Blitz“ oder „Wahnsinn“ und grenzt ihn gegen den letzten Menschen ab, der von sich beansprucht, er habe das Glück erfunden. Was folgt, ist ein Scheitern der Verkündigung. Denn die Menge reagiert auf die Botschaft vom Übermenschen mit dem entgegengesetzten Wunsch: „Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra, – so riefen sie – mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!“2 Nietzsche weiß, dass, wenn er eine Steigerung des Menschen anstrebt, diese bei seinen Zuhörern versandet. Nietzsches Rede vom Übermenschen läuft auf ein Missverständnis hinaus, das sich nicht organisieren lässt.

Da Nietzsche als Graezist die Sophistik kannte, dürfte ihm vermutlich bewusst gewesen sein, was in der Antike bereits einmal als Gedankenexperiment durchgespielt worden war: Angenommen, es gäbe eine übermenschliche Person, dessen Leib und dessen Seele so undurchdringlich hart wie Diamant sei: Wäre dieser Übermensch stärker als die Staatsgesetze? Nein, wurde geantwortet, das Recht und das Gesetz werde sich als stärker erweisen. Die Macht der Mehrheit würde ihn zu Fall bringen. Und so weicht auch Zarathustra vor der Mehrheit zurück, welche bereits die bloße Vorstellung eines Übermenschen ablehnt.3

Mit Nietzsche erfahren wir über den Übermenschen das, was wir nicht suchen, eben eine destruktive Diskrepanz von Verkündigung und Aufnahme. Ganz andere Züge lassen sich der Faust-Gestalt Goethes entnehmen. Faust will Übermensch sein. Ekel an Wissen und an der Möglichkeit von Wissen führen Faust zu einem Bund mit einer Teufelsgestalt, die sich als vollständige Negation von Sein und Sinn selbst versteht. Faust sucht sich als Übermensch mit den Mitteln der Magie zu betätigen. Die Magie verleitet ihn nicht, sondern er bedient sich ihrer.

Er erhält später ein Stück Land am Meeresufer, jedoch durch magische Tricks unrechtmäßig erworben. Was wird aus ihm am Ende? Faust, indem er Land durch Eindeichung gewinnt, erweist sich als Ingenieur des Unendlichen. »Vor Augen ist mein Reich unendlich« (Vers 11.153); ein Aussichtsturm wird errichtet, »Um ins Unendliche zu schaun.« Der Preis ist hoch. Philemon und Baucis und ihr Gast werden ermordet, die Arbeit des Ingenieurs fordert Menschenopfer und drittens praktiziert Faust Erwerbkriegsraub. Zu Deutsch: Piraterie. Faust lebt vom Raub der von anderen erbrachten Leistung. So entwickelt sich die übermenschliche Gesinnung des Faust zu dem hin, was Mephistopheles am Ende – vor dem verschlüsselten Schluss der Tragödie, dessen Deutung hier ausgespart sei – als definitiven Nihilismus äußert:

Vorbei und reines Nichts, vollkommnes Einerlei. (Vers 11.597)

Die Übermenschlichkeit des Faust wächst sich bei Goethe zu der Frage aus, ob unsere Zivilisation, die nicht mehr zwischen Egoismus und Zerstörung der Lebensgrundlage aller Menschen unterscheiden möchte, ausnahmslos selbstdestruktiv ist. Insofern bildet der Faust Goethes im Gewand einer spätmittelalterlichen Verfremdung die Bearbeitung einer Frage, deren aktuelle Dringlichkeit nicht überboten werden kann.

Es bleibt noch an Jean-Jacques Rousseau zu erinnern. Denn dieser schlägt uns – im 7. Kapitel des zweiten Buches seiner Schrift Vom Gesellschaftsvertrag vor vor, konstruktiv von einem Übermenschen zu sprechen, dem es gegeben wäre, Gesetze eines volkssouveränen Staates zu geben, während dieser zugleich von der Herrschaft ausgeschlossen bleibt. Rousseau redet nicht von einem „Übermenschen“, spricht dem Gesetzgeber aber Attribute der Außergewöhnlichkeit und eine Fähigkeit zu, „die über die menschliche Kraft hinausgeht“ (au dessus de la force humaine). Verglichen mit Nietzsches sozial scheiternder Verständigung auf den Übermenschen, verglichen mit Faust, dessen übermenschliches Verhalten die Grundlagen der Zivilisation zerstört, scheint es daher einzig Rousseau zu sein, der mit dem Übermenschen eine politisch-konstruktive Kraft verbindet. Indem der Übermensch allgemeingültige Gesetze aufstellt, aber unter keinen Umständen herrschaftsbefugt ist, zeigen sich Umrisse einer politischen Kraft, die endlich die Kräfte des Übermenschen zur Stärkung des Allgemeinwohls nutzt. Damit werden zugleich die Fantasien der russischen Revolutionäre und die Profit-Ideologie der Transhumanisten konzeptuell erledigt. Die Gesellschaft profitierte als ganze von den Energien eines Übermenschen. Spricht dies zu Rousseaus Gunsten, so ergeben sich dennoch zwei gravierende Einwände. Erstens, woher soll der Übermensch kommen, unter welchen Voraussetzungen ist sein Auftreten zu erwarten? Rousseau weiß darauf keine Antwort. Er setzt voraus, dass es einen Gesetzgeber gibt, ohne zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen. Der Gesetzgeber kommt aus einem Bereich, der alles über ihn sagt, er kommt aus dem Nichts. Der zweite Einwand ist noch grundlegender, dafür jedoch weitaus verborgener. Die Frage lautet: Wie werden aus den Vorschlägen des Gesetzgebers bindende Gesetze? Darauf gibt es zwei Antworten, die beide jedoch nicht weiterhelfen. Entweder sind die Vorschläge unmittelbar Gesetze. Dann aber lässt sich der Ausschluss des Gesetzgebers von der Herrschaft nicht aufrecht erhalten. Denn in diesem Fall ist der Gesetzgeber bereits Teil der Herrschaft. Er besäße einen Einfluss auf das Regierungshandeln, der nicht mehr korrigierbar wäre. Oder die Herrschaft bestimmt, dass die Vorschläge des Gesetzgebers selbst bereits Gesetzeskraft besitzen. Auch dies läuft darauf hinaus, dass es keine Separierung von Gesetzgebung und Herrschaft gibt. Die bestehende Herrschaft wäre bereits selbst gesetzgebend. Daraus folgt, dass selbst ein konstruktiver Umgang mit den Energien des Übermenschen politisch scheitert. Übrig bleibt Goethes Vision einer gigantisch werdenden Profitgesellschaft, deren Tätigkeit die vitalen Voraussetzungen ihres eigenen Überlebens zerfrisst und langfristig zerstört.

1 M. Hagemeister und J. Richers, Utopien der Revolution: Von der Erschaffung eines neuen Menschen zur Eroberung des Weltalls. In: H. Haumann Hg, Die Russische Revolution, Köln, Weimanr, Wien 2007, 133.

2 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Sämtliche Werke Band 4, München/ Berlin, 20.

3 Vgl. die Ausführungen des Anonymus Iamblichi VI in der Vorsokratiker-Ausgabe von J.-P. Dumont, Les Présocatiques, Paris 1988, 1163f.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert