Philosophisch-politische Fragen

Jenseits von Kaiserreich und Sozialismus

Jenseits von Kaiserreich und Sozialismus

1. Derzeit rufen die einen nach einer Kaiserherrschaft wie im zweiten deutschen Reich von 1871 und wie zu Zeiten der Herrschaft des zweiten Kaisers Bonaparte oder wie der Monarchien in Alteuropa. Andere rufen nach dem Ende einer Herrschaft der Individuen und fordern Gemeinbesitz und sprechen von Sozialismus. Keiner weiß jedoch, wo wir uns politisch und geschichtlich befinden. Ob Anarchie, ob rigide Ordnung, ob Volksherrschaft, ob Oligarchie, ob Alleinherrschaft besteht. Die Netzwerke der Kommunikation werden mit „Ideen“ geflutet, die längst keine mehr sind, sondern Dünntee von vorgestern. Man scheint nach etwas zu suchen, was außergewöhnlich wäre. Etwas, was uns Halt gibt: Teils eine Kaiserherrschaft, die uns lenkt und die für uns denkt. Teils ein Sozialismus, für den sich alle gemeinsam anstrengen.

2. Eines ist jedoch sicher: Man ist Erbe von uralten politischen Bestimmungen. Sie alle gehen auf jene Achsenzeit zurück und damit auf ein Bild, das der Philosoph Karl Jaspers für jene Jahrhunderte in Europa und Asien vor unserer Zeitrechnung zwischen den Jahren 800 und 200 zeichnete. Man wollte Regeln für das politische Tun, das wissenschaftliche und das logische Tun. Alles musste ableitbar sein: Folgerungen in der Logik, Gesetze in der Politik, Schlüsse in der Argumentation.

3. Es geschah auch in jener Achsenzeit, in der alle Begriffe der Verständigung über politische Vergesellschaftung aufgestellt und erprobt wurden. Man unterschied zwischen einer Herrschaft des Volkes, einer Elite und eines Einzelmenschen. Weiter ist man seither nicht gelangt. Man ersann auch Übergänge zwischen diesen Verfassungsformen. Berühmt war die Lehre des griechischen Autors Polybios (200 – bis ca. 120 vor u. Z.). Er fand nämlich, dass aus der Herrschaft eines Einzelnen eine Monarchie wurde, die jedoch nach und nach in eine Tyrannis umschlug. Die Tyrannis wurde gestürzt, und es entstand eine aus wenig befähigten Einzelnen bestehende Aristokratie. Nach einiger Zeit degenerierte auch die Aristokratie und wurde zur bloßen Oligarchie, verstanden nicht als Herrschaft, der moralisch Edlen, sondern der bloßen Vielen. Das Volk rebellierte im Namen der Rechte aller und es entstand eine Demokratie. Doch nach einiger Zeit kippte auch die Demokratie in eine Schlechtenherrschaft um, die Polybios als „Ochlokratie“ bezeichnet. Jetzt hat sich, so Polybios, ein Kreis geschlossen. Die Schlechtenherrschaft vermag kein Gemeinwesen mehr zusammenzuhalten. Die Gesellschaft zerfließt. Aus dem Herrschaftsverlust geht jedoch am Ende wieder eine Alleinherrschaft hervor, die sich als Monarchie stabilisiert. So dreht sich die politische Geschichte in einem langem Zyklus um sich selbst. Alle sechs Formen und ihre gewaltsamen Übergänge kehren als „Haushalt“ der Universalgeschichte wieder. Diese Lehre hat ungeheuer gewirkt und wird in der späteren Renaissance sogar noch von Niccolò Machiavelli vertreten. Empirisch hat man nachgerechnet, dass dieses Konzept eines Zyklus der Staatsverfassungen nicht lückenlos zutrifft und eher ein Wunschbild darstellt.

4. Man betrachte einmal die römische Geschichte. In ihrer Frühzeit wurde Rom von etruskischen Königen beherrscht. Dann wurde diese Herrschaft abgesetzt und entstand etwas, das heute alle demokratischen Staaten darstellen, nämlich eine Republik. Diese römische Republik dehnte sich im Lauf der Jahrhunderte aus. Sie war kein starres Gebilde, sondern sie formte sich im Laufe der Jahrhunderte. Aus einer winzigen Stadtrepublik wurde allmählich über Kriege, in denen die Römer wie gegen Hannibal um ihr Überleben kämpften, ein Riesenreich, das die iberische Halbinsel, Gallien, den Donauraum, die Türkei, Nordafrika umfasste. In dieser Zeit blieb Rom Republik und war nicht dem Polybios-Zyklus unterworfen. Was bedeutete eine Republik? Sie setzt sich aus res und publica zusammen und meinte „Öffentliche Angelegenheit.“ Cicero definierte Republik als „Ansammlung einer Menge, die in Anerkennung des Rechtes und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist“ (coetus multitudnis iuris consistit et utilitas communione sociatus). Zwar besaßen die Römer mit „status“ ein Wort für unseren heutigen Staat, doch sie benutzten es kaum. Statt Staat gab es die Republik. Im Lauf der Jahrhunderte erwies sich diese Republik als ein lernbereites Gebilde: 451 vor u. Z. wurde das Gesetz schriftlich fixiert; danach hob man das Verbot auf, dass Ehe nur zwischen Patriziern geschlossen werden durfte; danach erhielt das Volk Zugang zur Schaffung zu eigenen Gesetzen; dann bildete sich eine Nobilität heraus, die auf Verdienst und nicht mehr nur auf Abstammung beruhte. Schließlich wurde ab 287 das Volkstribunat eingeführt, das die auf dem Wege des Vetos öffentliche Beschlüsse auch blockieren konnte. Doch nach mehr als vierhundert Jahren geriet die Republik eine Herrschaftskrise. Es siegte Julius Caesar. Er ließ sich zu einem Diktator auf Lebenszeit erheben. Das Diktatorenamt war eine Ausnahmeregelung der Republik für den Staatsnotstand und wurde vor allem in den Kriegen gegen Hannibal eingesetzt. Das Wort „Diktator“ gehört zu dicere, sagen, und meint, dass etwas auf eindringliche Weise gesagt und ausgesprochen wird. Caesar wurde 44 vor u. Z. ermordet, doch sein Name wurde zu einem Begriff, nämlich der des Kaisers, den die Russen später Zar nannten. Kaiser geht also auf den Eigennamen eines Herrschenden zurück, die zu ihrer Zeit eine nicht legitime Herrschaft im Ausnahmezustand bildete. Davon hat sich das Kaiserbild im Laufe der späteren Jahrhunderte nie erholt. Das Kaisertum behielt jenes Gift einer ursprünglich illegitimen Herrschaft.

Die Zeit nach Caesars Ermordung ergab einen Bürgerkrieg der Caesar-Anhänger gegen dessen Mörder. Es endete mit dem Sieg von Caesars Adoptivsohn Oktavian und seines Bundesgenossen Marcus Antonius, der die hochbegabte griechisch-ägyptische Königin Kleopatra im Osten heiratete. Doch Antonius und Kleopatra wurden militärisch besiegt. Shakespeare hat Caesars Ermordung und später den Untergang von Antonius und Kleopatra in seinen bis heute faszinierenden Tragödien Julius Caesar und Antonius und Kleopatra für alle und für jedne Einzelnen aufleben lassen.

5. Wer und was aber war jener Oktavian, der am Ende das römische Reich allein beherrschte? Bis heute steht die Geschichtswissenschaft vor einem Rätsel. Oktavian betrieb eine militärbasierte Alleinherrschaft und sorgte gleichzeitig dafür, dass eine allgemeine religiöse und kulturelle Teilhabe der vielen Völker des römischen Reiches daran bis hin zu den Sitten der untersten Schichten geschah. Zum Glück fand er Architekten, die die Städte umgestalteten, die überall Straßen anlegten und die Wasserversorgung sicherten. Er fand Dichter und Historiker, die bis heute in jeden Bildungskanon eingingen. Er selbst verfasste dichterische Texte und beschäftigte sich auch mit Philosophie. Er versorgte die arme Bevölkerung Roms gratis mit Getreide. Seine Herrschaft war abhängig von der Gunst der Wohlhabenden des Senats, die auch heute noch in den USA letztlich unter demselben Namen bestimmend sind. Revolten, die sich gegen Oktavian richteten, wurden rasch identifiziert und erstickt. Oktavian, dem die Römer zu Lebzeiten die Bezeichnung Augustus („der Erhabene“) verliehen, schuf in vier Jahrzehnten die Grundlage einer römischen Republik, die sich nunmehr als Imperium eines Alleinherrschers darstellte. Hundert Jahre nach Augustus verriet uns der Historiker Tacitus an einer nicht allgemein bekannten Stelle eine Voraussetzung, weshalb auch diese halbiert legitime Herrschaft des Augustus dennoch als legitim empfunden wurde. Ein Kaiser namens Galba teilte seinem Nachfolger mit, „er werde über Menschen herrschen, die weder die vollständige Knechtschaft zu ertragen vermögen, noch die vollständige Freiheit“ (imperaturus es hominibus, qui nec totam servitutem pati possunt nec totam libertatem). Das also war die psychosoziale Basis dafür, dass die Römer eine Kaiserherrschaft akzeptierten: Man wollte weder total beherrscht werden, noch wollte man eine Freiheit, in der jeder alle übrigen ungeschützt sich gegen das allgemeine Wohl betätigen darf.

Rom war eine sklavistische Gesellschaft, ähnlich wie die USA mehr als ein halbes Jahrhundert im 18. und 19. Jahrhundert ebenfalls. Die USA übrigens wollten, wie es Henry David Thoreau formulierte, ein neues Imperium Romanum im Westen darstellen. Sie nannten eine ihrer Kammern Senat und errichteten ein weit aus größeres Kapitol als die Römer es besaßen. Die USA-Politik war gern rückwärts in die Zukunft gerichtet. Auch sehnte man sich dort nach dem Imperium des Augustus zurück. Doch in Rom hatten die Sklaven die Möglichkeit, sich frei zu kaufen. Sie verfügten über Geld, sie waren oft auch gebildet, und der soziale Aufstieg wurde ihnen nicht verwehrt. Sie empfanden daher die Kaiserherrschaft nicht als System der Unterdrückung. Blutig unterdrückte Sklavenaufstände geschahen vielmehr in der republikanischen Zeit vor Caesar.

200 Jahre nach dem Tod des Augustus überlieferte uns der griechische Historiker Dio Cassius, wie die Römer reagierten, als dieser Herrscher aufhörte zu existieren: Die Römer „ergriff aber auch deshalb große Sehnsucht nach ihm [nach Augustus], weil er die Monarchie und die Demokratie gemischt hat und ihnen dadurch zugleich die Freiheit bewahrte und Ordnung und Sicherheit schuf, so dass sie ohne den Übermut, den demokratische Ordnungen kennzeichnen, und ebenso ohne tyrannische Hybris in einer maßvollen Freiheit und zugleich in einer Monarchie, die keine Schrecken bringt, leben konnten. Auf diese Weise waren sie, obwohl einem Monarchen unterstehend, doch keine Knechte, und, obwohl in einer Demokratie lebend, doch ohne (die für diese typische) Zwietracht.“

6. Lässt sich aus der Geschichte etwas lernen? Der italienische Historiker Guicciardini und später der deutsche Philosoph Hegel verneinten. Grund: Jede politische Einzelhandlung ist so stark durch Verflechtungen mit anderen Aktionen individualisiert, so dass sich keine allgemeinen Regeln bilden lassen. Doch Hegel selbst mutet uns zu, dass die Universalgeschichte zum Bewusstsein der Freiheit aller Menschen führt und dass insofern ein umfassender Lernfortschritt geschieht. Karl Marx kritisierte ihn dafür und ging davon aus, dass die Geschichte nunmehr geplant werden solle. Marx und zuvor Hegel verfügten beide über ein umfassendes Wissen der Geschichte. Den Kaiserwilligen von heute hätten sie vermutlich mitgeteilt, dass eine Kaiserherrschaft mit dem Gift des Illegitimen verbunden bleibt. Den Sozialismus-Fans hätten sie vorgehalten, dass Sozialismus abstrakt bleibt. Zwischen beiden besteht ein Feld des Legitimen. Es ist bestimmt von verschiedenen Verboten. Sie beziehen sich auf: Erderhitzung, Vergiftung von Atemluft, von Trinkwasser, Bodenerschöpfung, riskante Essgewohnheiten, Atomkriege und Pandemien. Anlasslose Überwachung, verselbständigte Künstliche Intelligenz und kostspielig unfallträchtige Atomkraft kommen hinzu. Herrschaft wäre dann legitim, wenn sie über Strategien verfügte, diese Verbote nachhaltig zu praktizieren. Kaiserlich illegitime und abstrakte Sozialismus-Herrschaft helfen uns nicht weiter. Können daher in der beschriebenen Tiefe der antiken Geschichte und vielleicht mehr noch in der Tiefe der Geschichte Chinas bisher ungenutzte Möglichkeiten ruhen, die politische Verständigung aller auf ähnliche Lösungen für alle zu erkunden?

 

Literatur

Bleicken, J, Augustus. Eine Biographie. Reinbek 2010

Büchner, K, Römertum. Versuch einer Wesensbestimmung. Stuttgart 1980

Haas, R, Amerikanische Literaturgeschichte 2. Heidelberg 1974

Polybios, Die Verfassung der römischen Republik. Historien VI. Buch. Griechisch/Deutsch. Stuttgart 2012

Tacitus, C., Historien. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 2003

Taureck, B. H. F, Drei Wurzeln des Krieges, und warum nur eine nicht ins Verderben führt. Philosophische Linien in der Gewaltgeschichte des Abendlandes. Zug 2019

Taureck, B. H. F, Machiavelli-ABC. Leipzig 2002

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