Erläuterung des Magazins-Titels LIBIDO PEREUNDI?

»Libido pereundi« ist Lateinisch. Jeder kennt »Libido«, aber bei »pereundi« hört das Verständnis häufig auf. Die Formulierung »Libido pereundi« findet sich bei Titus Livius (59 v. u. Z. bis 17 n. u. Z.), dem heute viel geschätzten Historiker der Römer aus jener Zeit, als in Rom die Republik zwar nach wie vor bestand, in Wirklichkeit jedoch von einem einzigen Herrscher geführt wurde, dem Imperator. Daher nennen wir diese Zeit auch das Imperium Romanum. »Libido pereundi« bedeutet »Lust am Untergang.« Diese Lust am Untergang hat noch einen weiteren Namen. Er lautet »avaritia«, Habsucht, Geldgier.

Hören wir Livius in seiner Vorrede zu seinem Geschichtswerk : »Man begehrte um so weniger, je weniger man besaß.« Halt. Das ergibt eine Botschaft, von der wir kaum glauben können, dass sie zutrifft. Denn es gilt doch als ausgemacht, dass jeder um so mehr an Wohlstand begehrt, je weniger ihm aktuell zur Verfügung steht. Aus Armut soll Reichtum werden, auch wenn am Ende nur wenigen das meiste gehört. Reicher werden zu können, treibt uns an. Der in der Gründung der USA fixierte Wert der »Glückssuche« (Pursuit of Happiness), inzwischen auch »Glückssucht«, schließt stets auch einen Zuwachs an Wohlstand ein. Und das gesamte ökonomische System des Globus beruht seit etwa 200 Jahren auf dem einzigen Gedanken des »investment of money in the expectation of making profit.«

Livius fährt fort: »erst vor nicht langer Zeit hat Reichtum die Habsucht, haben die überreich strömenden Genüsse das Verlangen eingeführt, durch Üppigkeit und Ausschweifung zugrunde zu gehen (libidem pereundi) und alles zugrunde zu richten.« Livius weiß, dass er hiermit an einen Vorgänger anschließt, nämlich an Sallust (86-34 v. u. Z.). Sallust steht kritischen Zeitdiagnose des Livius nicht nach und spricht von einem Verlangen nach Geld und Macht, aus dem eine grausame und unerträgliche Politik entstand. Allerdings geht er nicht so weit, dass aus der Lust am Untergang alles zugrunde gerichtet wird. Er schreibt in seinem Text übder die Verschwörung des Catilina: »So wuchs zuerst das Verlangen nach Geld, dann nach Macht: dies war gewissermaßen die Wurzel alles Übels denn die Habsucht untergrub Treue, Redlichkeit und die übrigen guten Eigenschaften; dafür lehrte sie Hochmut und Grausamkeit, lehrte die Götter missachten und alles für käuflich halten. Die Ehrsucht veranlasste viele Menschen, falsch zu werden, anders im innersten Herzen zu denken als mit Worten offen zu bekennen, alle Freundschaft und Feindschaft nicht nach dem wahren Wert, sondern nach äußerem Vorteil abzuschätzen, mehr eine brave Mine zu zeigen als wirklich gut zu sein. Anfangs breiteten sich diese Fehler nur allmählich aus, zuweilen schritt man noch dagegen ein; als dann aber die Fäulnis wie eine ansteckende Seuche um sich griff, da wandelte sich das ganze Volk, und aus der gerechtesten und besten Regierung wurde eine grausame und unerträgliche.«

Im 18. Jahrhundert kehrte eine ähnliche Diskussion um ein durchaus ähnliches Thema zurück. Es ging um die Entbehrlichkeit des als notwendig Erachteten. Es ging um den Luxus. Auch Voltaire befürwortete den Luxus. Doch sein Gegner Rousseau hielt ihm entgegen: »Der Luxus mag nötig sein, um den Armen Brot zu geben. Doch wenn es keinen Luxus gäbe, dann gäbe es auch keine Armen. Der Luxus nährt 1000 Arme in unseren Städten und bewirkt den Tod von 100 000 auf dem Lande.«

Ist es möglich, einer Profitgesellschaft zu verdeutlichen, dass sie in einer Phase des »Anthropozäns«, in der alles was für den Menschen ist, auch durch ihn existiert, auf einen Gesamtruin der Kulturen hinarbeitet? Wenn das Fragezeichen im Titel des Magazins einen Sinn besitzt, so ist es dieser.