Ein Lexikon der kommunikativen Verzerrungen

Toll, unsere Höchstwertung?

Toll, unsere Höchstwertung?

Dieses Adjektiv (»tolle Rede«) oder Adverb (»toll gesprochen«, »toller Typ«, »toller Song«) gehört insofern zu den problematischen Bezeichnungen, als es zur Höchstform dessen gehört, was jemand zu bejahen fähig ist, während es zugleich seine Bedeutung mitführt, wonach es abwegig oder verblödet meint. Der höchste – allerdings nur im deutschen Sprachraum auftretende – toll-Gebrauch (»great« sagt man im britischen und amerikanischen Englisch, ohne metaphorische Assoziation an abwegig oder verblödet) gilt inzwischen als hochdekorierter Wertungskommandant.

Goethe fasst in Nummer 1328 seiner Maximen und Reflexionen die vielleicht verblasste aber noch immer durchscheinende toll-Bedeutung zusammen:

Toll ist:
wer Toren belehrt,
Weisen widerredet,
von hohlen Reden bewegt wird,
Huren glaubt,
Geheimnisse Unsichern vertraut
(Goethe 1980, 225).

Wer – und viele tun dies inzwischen mit jedem zweiten Satz, den sie äußern – toll sagt, scheint nicht zu bemerken, dass er auf diese Weise eine psychische Störung mitbezeichnet. Es ist leider nicht zu erkennen, dass er dies auch weiß und somit seine Äußerung selbstironisch relativieren kann. 1796 schrieb Kant in Zum Ewigen Frieden von der Unfähigkeit der »Wilden«, ihre »tolle Freiheit der vernünftigen vorzuziehen« (Kant 1966.VI, 209) und bezeichnet damit mittelbar die im 21. Jahrhundert neu ausbrechende zwischenstaatliche und auf Krieg zielende Wildheit, die einer Tollwut gleich, die Akteure erfasst.

Eine gewisse dritte Bedeutung von toll, die zwischen dem alten verblödet und dem neuen Kommandanten der Höchstwertung liegt, zeigt sich ansatzweise in Kafkas Romanfragment Das Schloss. K.s spätere Geliebte namens Frieda wird charakterisiert als: »Ihr Ehrgeiz war offenbar toll, und gerade an K., so schien es, wollte sie ihn sättigen« (Kafka 1969, 513). Von einer anderen Frau namens Amalia heißt es: »Sie hat sich ja toll und voll in Sortini verliebt« (1969, 650). An anderer Stelle wird »Tollheit« weiterhin im traditionellen Sinn von Unvernunft verwendet (1969, 554).

Zum Glück gab es noch einen Autor, der unbeirrt an der missbilligenden Semantik festhielt, nämlich Bertolt Brecht. In seinem Gedicht Lob des Kommunismus von 1930/31 charakterisierte er den Kommunismus. Der nämlich sei »keine Tollheit,/Sondern das Ende der Tollheit« (Brecht 1981, 463). Angesichts der fortschreitenden Positivierung einer Bedeutung des Idiotischen mag Brecht derzeit erfrischend wie zugleich nicht mehr verständlich wirken. Dem heutigen Sprachgebrauch folgend wäre für Brecht der Kommunismus: das Tollste.

Dass toll nach 1945 als unangefochtener Positivbewertungskommandant aufsteigt, beweist Wolfgang Borchert früh in der Nachkriegsliteratur. In Deutschland erlebt Beckmann einen »ganz tollen Film.« Ein Kabaretdirektor findet, dass Beckmann eine Brille als »ganz tolle(n) Apparat« auf der Nase hat. Oder er bemerkt: »Der Stoff ist toll!«. An anderer Stelle heißt es: »das heiße tolle Gefühl in Hirn und Gedärm.« (Borchert 2016, 8, 29, 48, 112).

Die Tatsache, dass toll ausgerechnet zu einem Wertungskommandanten aufstieg, widerspricht paradoxerweise der deutschen Tendenz zur Ersetzung eigener Bezeichnungen durch englische. Dabei gelingt es nicht, Entsprechungen für das kühle »great« oder das genaue italienische »emozionante« (zustimmende Emotionen bewirkend) zu bilden. Ausgerechnet im Fall einer Höchstwertung von etwas verfiel man auf eine Metapher, die ihre Assoziation mit abwegig oder verblödet, idiotisch nicht loswird, ohne dass zugleich die Chance zur ironischen Selbstrelativierung genutzt wird.

Rubrik: Vermeidbar problematischer Bezug.

Alternativen: Hervorragend, großartig, prächtig.

B. Brecht, Die Gedichte in einem Band, Frankfurt 1981
W. Borchert , Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen, Reinkek 2016
J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, Frankfurt 1980
F. Kafka, Die Romane, Frankfurt 1969
I. Kant, Zum Ewigen Frieden. In: Kant, Werke VI, Hrsg. W. Weischedel, Darmstadt 1966

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