Aktualität der Antike

Wenn laut Heraklit der Krieg der Vater aller Dinge ist: War deshalb der griechische Denker Heraklit ein Militarist?

Wenn laut Heraklit der Krieg der Vater aller Dinge ist: War deshalb der griechische Denker Heraklit ein Militarist?

Heraklit gilt als als ein Weiser, nicht als Weisheitsliebhaber (Philo-soph). Er legte vermutlich sein Denken in einer Schrift um 480 vor unserer Zeitrechnung im damaligen Ephesos an der heutigen Westküste der Türkei nieder. Die Philosophie, die Suche nach Weisheit, war damals noch nicht erfunden. Dies geschah erst später bei Platon. Die Weisheit der alten Denker wie Thales, Anaximander, Parmenides oder eben Heraklit war in eine Krise geraten. Dafür sorgten die Sophisten. Am weitesten ging der Sophist Gorgias. Er formulierte drei Sätze: 1. Es existiert überhaupt nichts. 2. Wenn dennoch etwas existiert, dann kann es nicht erkannt werden. 3. Wenn es erkannt wird, dann kann es nicht mitgeteilt werden. Von dieser Skepsis hat sich die Philosophie bis heute nicht erholt und es gibt keine Anzeichen, dass diese Erholung jemals geschieht.

Worin bestand die Weisheit des Heraklit? In der Einsicht, dass Gegensätze nur scheinbar und in Wirklichkeit vereinbar sind. Dafür bietet Heraklit verschiedene Beispiele aus der allen Menschen zugänglichen Erfahrung: Obwohl Flüsse ständig Bewegung sind, bleiben sie dieselben Flüsse. Ein Gerstentrunk bleibt nur dann sich selbst gleich, wenn er beständig umgerührt wird. Eine Schraube dreht sich gradlinig in das Holz ein, obwohl sie kreisförmig bewegt wird. Auf einer Kreisbahn sind Anfang und Ende dasselbe.

Unter allen seinen leider nur fragmentarisch überlieferten Sätzen findet sich jene Äußerung, die bis heute Krieg als den Normalzustand der Welt auszusagen scheint: „Krieg ist Vater von allen, von allen König, und die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen; die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.“ (Fragment B 53 in der Ausgabe von Diels und Kranz).

Dass der Normalzustand der Dinge auf Krieg hinausläuft, wurde besonders im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts neu bekräftigt. Eine Äußerung besagt: „Ein zutiefst ernster Satz eines großen Militärphilosophen [Heraklits Denken wird hiermit zur Militärphilosophie erklärt, eine Bezeichnung, die es sonst nicht gibt] besagt, dass der Kampf und damit der Krieg der Vater aller Dinge sei. Wer einmal einen Blick in die Natur wirft, wie sie nun einmal ist, wird diesen Satz bestätigt finden als gültige für alle Lebewesen und für alles Geschehen nicht nur auf dieser Erde, sondern wohl weit darüber hinaus. Das ganze Universum scheint nur von diesem einen Gedanken beherrscht zu sein, dass eine ewige Auslese stattfindet, bei der Starke am Ende das Leben und das Recht zu leben hat und der Schwächere fällt.“ Diese Äußerung stammt von jemandem, der sich mit dem Denken Heraklits nicht auskannte und Heraklit nur als Vorwand nahm, um seine Vorurteile über das Recht des Stärkeren zu bestätigen. Es handelt sich um eine Äußerung von Adolf Hitler während des von ihm gewollten Zweiten Weltkriegs 1942.

Im 21. Jahrhundert gab es einen zweiten Ausleger, der ebenfalls kein Kenner des Heraklitischen Denkens war und der dennoch versuchte, den Kriegssatz Heraklits für den Zweck nutzte, um im Jahre 2015 eine globalstrategische Ordnung zu skizzieren. Seine Argumentation läuft auf folgenden Schluss hinaus:

(1) Es soll eine internationales Machtgleichgewicht geschaffen werden.

(2) Heraklit zeigt eine Krieg einschließende Welt, die trotzdem im Gleichgewicht bleibt.

(3) Folglich soll ein internationales Machtgleichgewicht geschaffen werden, welches die Heraklit-Welt zur Geltung bringt.

Dies geschah bei jenem US-Politologen Henry Kissinger, dessen Handlungsweise als US-Außenminister Richard Nixons unter starken Vorbehalten menschenrechtswidriger Politik steht.

Ob Heraklit nur Militarist war, oder ob er die Grundlage einer kriegsbasierten Gleichgewichtspolitik bildete, beide Deutungen setzen voraus, dass Krieg der natürliche Normalfall ist. Dachte Heraklit so simpel? Müssen wir seine Weisheit auf ein letztlich militärisches Bild vom Kosmos reduzieren? Diese Fragen haben mich zu der Überlegung bewogen, dass Heraklits Kriegs-Satz vom Ist des Krieges eine andersartige Deutung entgegenzuhalten. Dem Ist des Krieges wird ein Wenn Krieg ist entgegengestellt. Das Sein des Krieges wird Gegenstand eines Bedingungssatzes. Der Vorteil dieser Deutung scheint erheblich. Wenn Krieg geschieht, wenn man Kriege beginnt, dann wird etwas zur Illusion: nämlich, dass man den Krieg auch selbst gewinnt, den man begonnen hat. Es ist hinlänglich bekannt, dass längst eindeutig gewonnene Kriege am Ende nicht zum Sieg führen. Die Siege Hannibals über die römische Republik schienen lange eindeutig, bis am Ende die Römer siegten. Die Siege Napoleons schienen so lange eindeutig, bis seine Gegner siegten. Die Siege Hitlers schienen so lange eindeutig, bis die Gegner ihn zur bedingungslosen Kapitulation zwangen. Kriege sind nicht berechenbar. Kriege bilden unkalkulierbare Risiken. Daher kann es keine kriegsbasierte Globalordnung geben. So besiegten vor fast zwanzig Jahren die USA Afghanistan, doch es findet sich seither kein Ende der Gewalt. So besiegten die USA und das Vereinigte Königreich 2003 den Irak, bevor dort die Gegengewalt erst eigentlich begann. So wurde Libyen 2011 mit Unterstützung des USA von Großbritannien und Frankreich bombardiert. Resultat: Es entstand in Libyen ein „failed state“ als Herd geopolitischer Unsicherheit.

Der Kriegs-Satz Heraklits rechtfertigt insofern nicht Militarismus. Vielmehr beschreibt er militärische Gewaltentfesselung, die sich nicht mehr automatisch kontrollieren lässt. Dies geschieht jedoch längst nicht mehr in abstrakten Räumen, denn wir leben seit mehr als zwei Generationen mit der strategisch und politisch ungelösten Drohung eines Atomkrieges, der durch eine fortlaufende Modernisierung der Atomwaffen und deren Vervielfältigung der nuklearen Feuerkraft nicht vom Tisch ist. Ein Atomkrieg, der auch leicht aus Versehen ausgelöst werden kann, würde in nicht mehr kontrollierbare Gewalt auslaufen. Heraklits uralte Weisheit über den Krieg könnte, wird sie als „Wenn Krieg geschieht, dann –“ verstanden, in eine begründete Warnung vor einem die menschliche Zivilisation auslöschenden Gewaltakt münden. Auch wenn das Denken seit der Sophistik in eine kaum lösbare Krise geriet, so behält die Weisheit Heraklits über den Krieg die Aktualität einer Warnung.

Literatur:

B. H. F. Taureck, Drei Wurzeln des Krieges, und warum nur eine nicht ins Verderben führt. Zug 2019

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