Pandemiefolgen

Wider das Versinken im Abgrund kollektiver pandemischer Ratlosigkeit

Wider das Versinken im Abgrund kollektiver pandemischer Ratlosigkeit

Autor: Herausgeber, beraten von Marie Gamillscheg und Deniz Utlu

Von der latenten zur kollektiven Ratlosigkeit

„Mit nichts ist man freigebiger als mit Ratschlägen“, schreibt der französische Moralist La
Rochefoucauld. In der Tat. Jeder scheint genau zu wissen, was für die anderen nützlich ist.
Dementsprechend wächst und wächst die Ratgeber-Literatur. Andere verhalten sich zumeist
falsch. Folgten sie meinen Ratschlägen, so wären sie erfolgreicher. Die Gesellschaft lässt sich
als Mitteilung von Ratschlägen an andere definieren. Wer Ratschläge erteilt, der scheint jedoch
in der Regel verschlossen, Ratschläge anzunehmen. Daraus ließe sich hypothetisch folgern,
dass die Gesellschaften aus gespaltenen Subjekten bestehen. Die Mehrheit gibt anderen
Ratschläge, schließt jedoch die Ohren vor ihnen, wenn sie ihnen gelten.
Was folgt daraus für eine lange Pandemie? Ich vermute, dass eine latente Ratlosigkeit zu einer
manifesten Ratlosigkeit wird. Ohne Pandemie konnte die kollektive Ratlosigkeit verdeckt
bleiben. In einer Pandemie kommt sie ans Tageslicht. Die Gesellschaften wurden umso
ratloser, je mehr die eingefrorenen Gesellschaften von ihren Staaten verwaltet wurden.

Wer oder was vermag Rat zu liefern?

Kommt Rat von der Politik, von der Religion, von der Virologie? Vom pädagogischen
Erziehungssystem? Oder von der Philosophie? Sie kommt von keinem dieser fünf Aktivitäten.
Die Politik wurde ratlos, weil die Opposition zur Farce unglaubwürdiger Alternativen wurde. Und
die Religion? Seit der Aufklärung erwies sich, dass alle Religionen ethische Pflichten bestätigen
und in Erzählungen einkleiden. Der moralische Gehalt der Religionen ist daher redundant, er
fügt einer nicht religiös begründeten Ethik nichts hinzu. Die Virologie kennt allein einen
Automatismus des Wenn-Dann: Soll sich Pandemie nicht ausweiten, so friere man die
Gesellschaft ein. Das pädagogische Erziehungssystem hat längst aus dem Auge verloren, dass
das Ziel der Erziehung die Selbsterziehung ist und bietet lediglich verschiedene psychologische
Empfehlungen. Und die Philosophie? Sie könnte Rat bieten, doch sie reibt sich in
Positionskämpfen selbst auf. Unstrittig für sie ist lediglich, dass nichts unstrittig ist.

Die Gegen-Welten der Kunst

Versinken wir somit, ohne es recht wahrzunehmen, allmählich in einem Abgrund kollektiver
Ratlosigkeit? Gibt es keine Gegenkräfte, gibt es keine „Wohlberatenheit“, als welche der
Dichterdenker Platon die Weisheit definierte. Der Weise ist wohlberaten, weil er nicht anderen
Ratschläge erteilt, sondern sich selbst berät. Doch es entsteht der Verdacht, dass hier als gültig
vorausgesetzt wird, was zuvor nicht demonstriert wurde.
Was nun? Wenn die Gesellschaft allmählich in einem Abgrund kollektiver Ratlosigkeit versinkt,
so könnte es dennoch eine Tätigkeit geben, die den Menschen vor jenem Versinken bewahrt:
Das geschieht in der künstlerischen Gestaltung. Musik, bildende Künste, Dichtung und Literatur
bilden Gegen-Welten zur gewöhnlichen Teilnehmersicht, indem eine Beobachtersicht
hinzugefügt und auf diese Weise die Gesellschaft zu Mitzeugen werden lässt. Daher ist die
gesamte Kunst das exakte Gegenteil von Systemrelevanz. Denn sie stellt jedes System,
verstanden als funktionale Transparenz sozialer Rollenverteilung, in Frage. Die Kunst stellt alles
außer sich selbst in Frage, denn sie ist sich selbst voraus. Sie ist in Gegenwart, sofern sie
bereits in der Zukunft ist. Sie befragt das Selbstverständliche und steckt uns mit uns mit
hilfreichen Zweifeln an. Der portugiesische Autor Fernando Pessoa notiert einmal Folgendes:
Wenn es etwas gibt, was dieses Leben uns gewährt und wofür wir, vom Leben selbst
abgesehen, den Göttern dankbar zu sein hätten, so ist es die Gabe, uns zu verkennen: uns
selbst zu verkennen und uns gegenseitig zu verkennen. Die menschliche Seele ist ein dunkler,
schleimiger Abgrund, ein Brunnen, den man an der Oberfläche der Welt besser nicht benutzt.

Niemand würde sich selber lieben, wenn er sich selber kennen würde, und so würde unsere
Seele, da die Eitelkeit nicht vorhanden wäre, die das Blut unseres geistigen Leben ist, an
Anämie sterben. Niemand kennt den anderen und wohl ihm, dass er ihn nicht kennt, denn wenn
er ihn kennte, würde er in ihm, auch wenn es sich um Mutter, Frau oder Kind handelte, seinen
intimen, metaphysischen Feind erblicken. Wir verstehen uns, weil wir nichts voneinander
wissen. Also eine Gegen-Welt: Dem Modell einer Transparenzgesellschaft, die inzwischen
längst zu einer Überwachungsgesellschaft wurde, wird das Bild einer heilsamen Verkennung
unserer selbst und der anderen entgegengesetzt. Ob die Verkennung uns hilft, ist nicht
entscheidend. Es geht um die Frage, ob wir darin einen Entwurf einer Gegenwelt zu erkennen
vermögen? Es geht darum, dass wir in das Licht einer Gegen-Welt eintreten, die uns eine
lebenswichtige Distanz zu unserer Normalwelt verschafft, welche sich mit Pseudonotwendigkeit
panzert.
Aus allen Dichtungen spricht diese Gegen-Welt verschieden zu uns. Wir existieren wie aus dem
Stoff, aus dem die Träume sind, und unser kleines Leben begrenzt ein Schlaf. So Shakespeare.
Leben ist ein leuchtender Nimbus, schrieb Virginia Woolf. Oder Hofmannsthal:
Und hätte jeder nicht ein heimlich Bangen
Vor irgend etwas und ein still Verlangen
Nach irgend etwas und Erregung viel
Mit innerer Lichter buntem Farbenspiel
Und irgend etwas, das zu kommen säumt,
Wovon die Seele ihm phantastisch träumt,
Und irgend etwas, das zu Ende geht,
Wovon ein Schmerz verklärend ihn durchweht – :
So lebten wir in Dämmerung dahin,
Und unser Leben hätte keinen Sinn …
Oder jene stets präsente Dichterin Sappho aus der frühen griechischen Antike, wenn sie
dichtete:
Es rötet sich ein Apfel am höchsten Ast.
Man hat ihn zu pflücken vergessen.
Nicht vergessen: man vermochte
ihn nicht zu erreichen

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