Pandemiefolgen

Wie entkommt man jener Verzichtsfalle, die in der Pandemie zu unerträglichen Frustrationen führt?

Wie entkommt man jener Verzichtsfalle, die in der Pandemie zu unerträglichen Frustrationen führt?

1. In einer Sendung im Deutschlandfunk bemerkte der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann am 25. Januar 2021, die Pandemie verlange Verzicht, der allerdings zeitlich überlang ausfalle. Man kenne instrumentelle Verzichtformen: Raucher*innen verzichten zum Beispiel auf Tabakkonsum, um sich dann jenseits des Verzichtes von ihrer Sucht für den Rest ihres Lebens zu erholen. Verzicht sei ein Instrument des Freikommens von etwas. Man nehme Verzicht in diesem Sinne billigend in Kauf, um damit Zuständen einer Sucht mit Krankheitsfolgen zu entkommen.

Das habe man ebenfalls 2020 in den westlichen Pandemiegesellschaften praktiziert. Man war bereit zum Verzicht, denn man erwartete, dass im Sommer der Verzicht nicht mehr erforderlich sein werde. Schillers Johanna von Orleans stirbt mit den Worten: „Kurz ist der Schmerz, und ewig währt die Freude.“

Was für Johanna im Aufstieg in ein von ihr erwünschtes Jenseits zutraf, das gilt umso mehr für die mittels kurzzeitigem Verzicht auf Shopping, auf Reisen, auf Cafébesuch, auf Kino, auf Museumsbesuche, auf Konzerte, auf Vorträge, auf Events, auf Demonstrationen, auf Abwechslungen aller Art. Je mehr verzichtet wird, desto stärker wird die bald erreichte Belohnung. Das zeitliche Verhältnis von Verzicht und Belohnung läuft auf eins zu nahezu unendlich hinaus. Mit dem Verzicht in einer Zeiteinheit könnten wir unbegrenzt belohnt werden.

Wir alle kennen den kollektiven Verzicht aus dem Stau auf den Autobahnen. Niemand steht im Stau, sondern jeder ist Teil des Staus. Niemand ist hierbei Opfer, sondern er ist Täter. Wer Teil eines Staus ist, der mag über die verlorene Zeit verärgert sein und dennoch sich freuen, weil er nicht in einen lebensbedrohlichen Unfall verwickelt wurde. Sobald der Stau sich auflöst, wird er ihn, wenn der Verkehr wieder fließt, vergessen.

Es lässt sich also zwischen einem absichtlichen Verzicht und einem erzwungenen Verzicht unterscheiden. Der Raucher, der zu rauchen aufhört, verzichtet absichtlich. Wer dagegen Teil eines Staus wird, der verzichtet gezwungen. Die Belohnung fällt in beiden Teilen ähnlich unbegrenzt aus. Es wartet auf uns ein Leben ohne Krebsleiden, oder es wartet das Freiheitsgefühl einer unbeschwerten Fahrt.

 

2. Was jedoch geschieht mit unseren Gesellschaften, die eingefroren im Pandemiemodus auf alle bezeichneten Erleichterungen verzichten? Die Zeiteinheit Eins ist längst überschritten, und es stellt sich kein erwarteter dauerhafter Nutzen ein. Somit kann der derzeitige Verzicht weder als absichtlicher noch als erzwungener Verzicht verstanden werden. Zwar gibt es Erwartungen eines ungeheuren Aufschwungs nach dem Ende der Pandemie. Doch, halt! Dieser Möglichkeit stehen die Menge der Insolvenzen im Bereich zum Beispiel der Gastronomie, des Tourismus und aller Kulturschaffenden entgegen. Käme ein Aufschwung, so müsste dieser gegenfinanziert werden, und niemand weiß, aus welchen Mitteln. Je länger sich die Verzichtzeit hinzieht, desto trüber werden die Aussichten auf eine nachfolgende Belohnung. Hinzu kommt eine zunehmende Verarmung ärmerer Länder, vor der eine Oxfam-Studie nunmehr warnt.

Wenn der Reichtum jedoch nur insofern erfolgt, dass Rohstoffe vernutzt werden, so fände dies insofern ein absehbares Ende, als alle Rohstoffe irreversibel und zunehmend gesundheitsschädlicher verbraucht würden, ohne dass Ersatzressourcen bereitstünden. Zudem würden die Kosten der Reparatur den erwirtschafteten Nutzen wieder aufzehren.

 

3. An dieser Stelle stellen sich drei Fragen:

1. Gibt es eine Formel, der alle folgen, sofern sie freiwillig oder gezwungen kurzzeitig verzichten?

2. Ist es möglich, sich universalgeschichtlich umzuorientieren?

3. Welche anderen Formen jenseits des bisherigen Verzichtes könnten uns kulturell und ökonomisch ein Überleben ermöglichen?

 

Als Antworten auf diese Fragen sei Folgendes vorgeschlagen:

1. Die gesuchte Formel lautet: Wir alle handeln nach der Maxime, auf nichts als auf den Verzicht zu verzichten. Verzicht wird selbstbezüglich und wird als Option ausgeklammert. Die Pandemie führt daher zu einer unerträglich werdenden sozialpsychologischen Frustration. Vielleicht führt sie aber auch zu Erfahrungen, die wir uns durch dass Ausschließen von Verzicht bisher verweigert hatten?

2. Eine solche Umorientierung ist möglich, allerdings eher in einem methodisch utopischen Sinn. Denn als Teilnehmer der Geschichte verfügen wir über keine Beobachterachtersicht auf die Gesamtgeschichte. Spätestens jedoch seit Joachim von Floris, der im Mittelalter eine Kirche des Geistes ohne Priester voraussagte, entstanden eine Fülle von Vorgriffen auf den künftigen Zeitverlauf.

Derzeit sind wir Zeugen einer Entwicklung, in welcher China, das die Pandemie bisher weitaus wirksamer als der Westen eindämmte, zur wirtschaftlich globalen Zentralmacht aufsteigt. Doch dies hilft uns nicht, da auch China linearwirtschaftlich auf Ressourcenverschleiß setzt. Auf diese Weise wird die Gesundheit aller beschädigt, und mit dem Abbau von Rohstoffen werden diese zugleich irreversibel vernichtet. Auch ein universalgeschichtlicher Blick vermag in der undurchsichtigen Tiefe historischer Zukunft daher kein Land jenseits des Verzichts auf Nicht-Verzicht zu entdecken. Allerdings steht noch eine Möglichkeit, aus, nämlich eine Antwort auf die dritte Frage.

3. Jeder, der sich mit den Schwierigkeiten eines ökonomischen Wachstums beschäftigt hat, und dabei die zunehmend ungleiche Verteilung des Reichtums und letztlich den Verschleiß der Verschleißwirtschaft kennt, weiß, dass es nur eine Form des Wirtschaftens gibt, nämlich eine Kreislaufwirtschaft, in welcher Input gleich Output ist und in der nichts verschlissen wird, was nicht regenerativ erneut in den Zyklus eingespeist wird. Dies wäre ein Modell, das als solches zumindest eine Orientierung ergibt, auch wenn es sich faktisch nur mit Einschränkungen verwirklichen lässt. Ein Kreislaufmodell regelt sich, indem auf das Problem Nummer eins der Linearwirtschaft verzichtet wird: nämlich auf die Erzeugung der Riesenmengen von Abfall, dessen niemand mehr Herr wird.

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