Philosophisch-politische Fragen

Zwei Paradoxien der Demokratie

Zwei Paradoxien der Demokratie

Auf Demokratie berufen sich viele Staaten, aber es gibt niemanden, der sie allgemeingültig zu definieren weiß. Gern wird die Gewaltenteilung als ihr Merkmal angesehen. Doch Politikwissenschaftler belehren uns, dass es sich um eine Gewaltenverteilung handele. Gewaltenteilung liefe tatsächlich darauf hinaus, dass am Ende keine Gesamtentscheidung mehr zustande käme. Die verschiedenen Gewalten werden so weit zerteilt, dass nichts Gemeinsames herauskäme. Und wer oder was teilt Gewalten der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und so fort, wenn nicht eine stärkere Gewalt? Eine als Gewaltenteilung vorgestellte Demokratie könnte daher eine Gewaltstärke enthalten, die dann zum Zuge kommt, wenn sich die anderen Gewalten gegenseitig behindern und lähmen. Daher ist Gewaltenteilung eine Metapher zur Verkleinerung von Kräften, die jedoch von einer stärkeren Macht ausgeübt werden.
Wie steht es mit der Gewaltenverteilung? Vermutlich handelt es sich dabei um eine lediglich bürokratische Variante der Gewaltenteilung. Wieder entsteht die Frage, wer oder was die Gewalten verteilt und nach welchen Grundsätzen sich eine Verteilung ergibt? Wer oder was verteilt Macht, wenn nicht eine stärkere Macht? Die Rede von einer Teilung oder Verteilung führt nicht zur Demokratie hin, sondern von ihr fort. Einem Verständnis der Demokratie kommt man daher auf zwei Weisen näher. Einmal durch eine Beobachtung von durch den altgriechischen Denker Aristoteles, zum anderen eine Beobachtung des Revolutionsgeschehens in Frankreich durch Hegel mehr als 2000 Jahre später. Aristoteles, selbst Bürger einer von Männern bestimmten Demokratie im Stadtstaat Athen, fand, dass eine an Demokratie interessierte Gesellschaft nur ein einziges Ziel hat: Dass sie möglichst nicht beherrscht wird. Wenn viele Menschen auf einem Staatsgebiet zusammenleben, wird eine Ordnung zur Regelung der Bedürfnisse nötig. Hält man trotzdem an der Herrschaftsfreiheit fest, so entsteht ein erstes demokratisches Paradox: Demokratie bezeichnet dann diejenige Herrschaft, die nötig wird, um Herrschaftsfreiheit zu garantieren. Damit das Staatsvolk vor unberechtigten Übergriffen geschützt wird, ist Herrschaft erforderlich. Demokratie wird paradox, weil sie Herrschaft benötigt, um Herrschaftsfreiheit zu garantieren. Dieses Paradox werden Gesellschaften, die sich als demokratisch verstehen, nicht mehr los.
Ein zweites Paradox entstand in der Französischen Revolution. Es ist erheblich gefährlicher als das erste Paradox. Hegel unterstellt es der Jakobinerherrschaft, obwohl diese es weitgehend vermieden hatte. Das zweite Paradox entsteht dann, wenn die Demokratie als ein identische Eines verstanden wird, das heißt als mit sich selbst identisches A=A aller Einzelwillen des Staates. In diesem Fall nämlich darf es keine von A=A abweichenden Voten geben. Alle Staatsbürger müssten dasselbe wollen oder dasselbe ablehnen. Abweichler werden zu Verrätern. Auf sie wartet die Todesstrafe. Ist eine Demokratie daher identitär, so würde sie zu einem Selbstgenozid der eigenen Staatsbevölkerung führen. Zu Beginn des Jahres 1794 führte die Jakobinerherrschaft tatsächlich zu einer politischen Justiz, die kurzzeitig in diese Richtung wies.
Nun ist jedoch bekannt, dass diese Form einer identitären Demokratie durch eine Verfassung verhindert wurde , die man zuvor in den USA und auch wieder in Frankreich wählte, nämlich durch die Form einer Republik. Die USA wollten eine Republik sein und blieben es bis heute. In einer Republik wird die Regierung gewählt. Doch die Wahlen haben dort ausdrücklich nicht den Sinn, die Voten des Volkes zu spiegeln, sondern sie zu filtern. Republiken ersetzen das A=A einer identitären Demokratie zudem durch das Mehrheitsprinzip, wie der Jakobiner Saint-Just es ausdrücklich abweichend von Rousseau formuliert hatte. Doch Mehrheiten löschen die Argumente von Minderheiten nicht aus. Verräterisch ist zudem die Metapher von der „überwältigen Mehrheit.“ Mehrheit steht also im Verdacht, Minderheiten zu überwältigen. Zudem gibt es keine Mehrheiten schlechthin. Mehrheiten werden durch Wahlpropaganda hergestellt.
Daher entsteht die Frage, ob Demokratie ein Traum oder ein Fantasma darstellt, das erzeugt wird, um Mehrheiten herzustellen. Die Frage nach einer Herrschaft, die dann nötig wird, um Herrschaftsfreiheit zu garantierten, sollte die politische Fantasie jedoch dauerhaft beschäftigen. Demokratie ist ein Moment der Unruhe in einer Republik, die sich zu keiner Zeit auf Erreichtem ausruhen kann. Eine globale Pandemie verschärft den Spielraum von Reden von Demokratie insofern, als Staaten zum Schutz ihrer Bevölkerungen die Aktivitäten ihrer Gesellschaften einfrieren. Auf diese Weise ergeben sich Eigenmächtigkeiten der Staatsherrschaft, von denen selbst Ultrakonservative kaum träumen konnten. Jene produktive Paradoxie, dass Demokratie auf Herrschaft zugunsten der gesellschaftlichen Freiheit angewiesen sei, würde in diesem Fall nicht mehr zum Zuge kommen, solange die Gesellschaft sicherheitshalber eingefroren bleibt.

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